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TRACE καιρος - Essays unter Zeitdruck

25.02.2022

Nicolas Stojek
Zur Evolution des Terrors in Europa

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Einleitung

Wenn man heute die Frage gestellt bekommt, was wohl die zukünftige Sicherheitspolitik am entscheidendsten prägen wird, scheint die Antwort klar: die militärische Bedrohung aus Russland. Diese Antwort ist aufgrund der gegenwärtigen Konfliktlage offensichtlich. Zudem schwelt der Konflikt schon seit bald einem Jahrzehnt, seit Russland die Krim-Halbinsel in das eigene Staatsterritorium eingliedert hat. Obwohl diese Antwort naheliegend ist und der Russland-Ukraine-Konflikt zweifelsohne seine Spuren hinterlassen wird, glaube ich nicht, dass ein konventioneller Krieg, selbst wenn er mit Russland ausbrechen würde, DIE Zukunftsfrage europäischer Sicherheitspolitik wird. Vielmehr denke ich, dass der Terrorismus der Megatrend ist, der Europa noch beschäftigen wird, lange nachdem ein eventueller Krieg in der Ukraine gefochten wurde. Grund dieser Annahme ist erstens, dass die Faktoren, die zwischenstaatliche Kriege zwischen Industrienationen bisher unattraktiv machen, weiterhin wirken; und zweitens, dass im Gegenzug der Islamische Staat durch seine geschickten und vergleichsweise niedrigschwellig anwendbaren Taktik- und Waffeninnovationen als Vorbild für terroraffine Personen wird. Diese sind, ob Lone Wolves oder Terrorzellen, schwer aufzuspüren und derzeitige Entwicklungen, wie das Erstarken der politischen Ränder, zunehmende ökonomische Verwerfungen und noch nicht absehbare Konflikte, die im Zusammenhang mit dem Klimawandel entstehen können, werden das Aggressionspotential unter den Völkern Europas wachsen lassen, sodass die Wahrscheinlichkeit partieller Eskalation im Medium des Terrors auf Basis dieser Prämissen steigen wird.

Warum kein Krieg?

Mit der Hypothese, dass Krieg nicht das prägendste Element europäischer Sicherheitspolitik wird, ist nicht gemeint, dass ein Krieg außerhalb des Möglichen liegt. Vielleicht erleben wir auch bald einen klassischen Krieg zwischen Russland und einem Westbündnis. Ein solcher Krieg würde massive Auswirkungen haben. Um jedoch einen Megatrend zu beschreiben, braucht es mehr Indizien als eine einzelne konkrete Bedrohungslage; es müssen die kulturellen Grundlagen für bestimmte Arten von Konflikt berücksichtigt werden. Wenn die Prognose nun ist, dass der zwischenstaatliche Krieg kein Megatrend europäischer Sicherheitspolitik ist, muss Bezug auf die Faktoren genommen werden, die einen solchen bisher verhindert haben. Diese Faktoren sind folgende: 1. Die ökonomische Abhängigkeit macht die Kosten-Nutzen-Rechnung eines zwischenstaatlichen Krieges sehr unattraktiv, da die wirtschaftlichen Einbußen und die damit einhergehenden Verwerfungen im eigenen Land auf jeden Fall sehr schmerzhaft wären, schlimmstenfalls zu einer Verwundbarkeit führt, die den Sieg im Krieg unrentabel werden lassen würden. 2. Der Friedensstifter der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Atombombe. Auch bei ihr gilt, dass die Folgen eines Atomschlags und des zu erwartenden nuklearen Zweitschlags das eigene Land derart in Mitleidenschaft ziehen würden, dass ein formaler Sieg dennoch in hohem Maße unrentabel wäre. 3. Der dritte Grund betrifft vor allem die Industrienationen, die seit Jahrzehnten eine Reproduktionsrate haben, die kaum mehr zum Erhalt des eigenen Staatsvolkes reicht. Die vielzitierte postheroische Gesellschaft resultiert aus diesem Nachwuchsmangel (van Creveld 1991; Münkler 2015). Wenn eine Familie nur noch im Schnitt 1,5 Kinder bekommt, wie es im EU-Durchschnitt und Russland der Fall ist, wiegt der Verlust eines Kindes im Krieg deutlich höher, als wenn die Fertilitätsrate bei 3 oder mehr Kindern liegt. Dieser Demographietrend lässt sich nicht mal eben umkehren und daher wird die Bereitschaft zum Krieg in den Nationen Eurasiens und den USA auf absehbare Zeit niedrig bleiben.

Warum Terrorismus?

Die These, dass Terrorismus der Megatrend der Zukunft wird, ist keineswegs offensichtlich. Der Global Terrorism Index 2020 zeigte, dass die Zahl von Terrorattacken und Terrortoten seit Mitte der 1970er Jahre stetig rückläufig ist. Auch das Wiederaufflackern des Terrorismus seit 9/11 ist wieder im Abflauen. Dieses Abflauen hängt wohl signifikant mit dem Zurückdrängen die Islamischen Staates zusammen. Die Hypothese stellt jedoch genau diesen Islamischen Staat in das Zentrum der Prognose: Terrorismus wird der prägendste Faktor europäischer Sicherheitspolitik, da der Islamische Staat relativ leicht zu imitierende Waffen- und Taktikinnovationen hervorgebracht hat, die die vermutlich wachsende Anzahl an terrorbereiten Personen bei ihren Anschlagsplänen inspirieren wird.

Zentral für die Hypothese ist zunächst die Annahme, dass die Zahl der terroranfälligen/-bereiten Personen steigen wird. Der amerikanische Kulturevolutions- und Cliodynamics-Forscher Peter Turchin verfasste mehrere Bücher, in denen er auf Basis seiner umfangreichen Datenbank Seshat historische Zyklen darstellte. Die Annahme, dass Geschichte zyklisch verläuft, möchte ich mir nicht zu eigen machen. Turchin zeigt jedoch Faktoren auf, die zu stärkerer Destabilisierung von Sozialsystemen führen. Wesentliche Faktoren sind: zu groß werdende Ungleichheit, zu stark wachsende Bevölkerung und die damit einhergehenden Verteilungskämpfe. Sind die genannten Faktoren stark ausgeprägt, verliert die Ingroup ihre Kooperationsfähigkeit und damit Stabilität. Dies führt im Makrozyklus zum Niedergang, begleitet durch gewalttätige innere Konflikte (Turchin 2007). Turchin wendet seine Formeln auch auf heutige Gesellschaften an und prognostizierte bereits 2010 die Ausschreitungen, die in den USA des Jahres 2020 stattfanden (Turchin 2010). Dass Turchin seine Modelle auf die westlichen Gesellschaften erfolgreich anwenden kann, ist ein Indiz, dass diese destabilisierenden Faktoren im Westen bereits zu einem gewissen Grad ausgeprägt sind. Die Beschwerden über Ungleichheit und Abstiegsangst sind auch bei anderen Legion (zum Beispiel Rosa 2005). Wenn nun Turchin einen Abwärts-Makrozyklus beschreibt, der zudem in anderer Form, mit anderer Begründung und Bewertung auch von vielen anderen wahrgenommen wird, ist davon auszugehen, dass diese Abwärtsdynamik uns noch eine Weile begleiten wird und sich dementsprechend ihre destabilisierenden Wirkungen potenzieren. Damit wird logischerweise auch die Wahrscheinlich zur Eskalation stetig größer.

Konfliktpotential besteht also. Doch warum soll sich dieses ausgerechnet als Terrorismus entladen? Trotz aller Kritik an der Einsatzbereitschaft europäischer Armeen muss man zugestehen, dass die Ausstattung der europäischen Sicherheitskräfte im Allgemeinen von sehr hoher Qualität ist; ob taktische Ausbildung, Aufklärungsmittel oder Waffentechnologie. Dementsprechend ist es geradezu suizidal, davon auszugehen, man könnte in Europa einfach eine geheime Armee gründen und diese bis zur Satisfaktionsfähigkeit hochrüsten, ohne dass es jemand merken würde. Die Folge dieser Überlegenheit der regulären Sicherheitskräfte ist mithilfe von Edward Luttwaks Begriff der paradoxalen Logik der Strategie (Luttwak 2003) zu erfassen. Da im Kampf nicht die lineare Logik „bessere Technik = bessere Erfolgschancen“ gilt, können improvisierte oder primitive Waffentypen gerade wegen ihrer Primitivität reüssieren, zum Beispiel dadurch, dass sie leicht zu beschaffen und schwer aufzuklären sind. Beispiel: die rechtsextreme Gruppierung „Werner S.“ deckte sich unter anderem in Tschechien mit Waffen ein und plante diverse Angriffe auf Politiker und Moscheen. Zum Zeitpunkt der Hausdurchsuchung waren bereits 32 Waffen, darunter auch mehrere Granaten und eine Slam-Gun gefunden, wie sie ähnlich auch der Hallenser Attentäter Stephan Balliet verwendete. Während ein Spitzel die Gruppe Werner S. auffliegen ließ, konnte Balliet zur Tat schreiten. Das Beispiel zeigt, dass die paradoxale Logik der Strategie in Europa die Tendenz aufzeigt, dass sich gegen die überlegene Staatsmacht eher mit kleinen, schwer aufklärbaren und autonomen Gruppen zu erheben ist. Zur klassischen Waffenbeschaffung auf dem Schwarzmarkt kommen zunehmend auch elaborierte Techniken zum Herstellen improvisierter Waffen zum Einsatz. Ein weiterer Vorteil terroristischer Aktivität ist, dass sie nicht auf den Einsatz gegen spezifische Feindpersonen beschränkt ist, sondern sich auch gegen Unschuldige richten kann. Die Attentate von Anders Breivik auf Utøya oder Brenton Tarrant in Christchurch zeigen, wie wahnsinnig effektiv solche Attacken sein können.

Der IS als Innovationsmotor des Terrorismus

Die Hypothese räumt dem IS eine besondere Stellung in der prognostizierten Relevanz des Terrorismus ein. Das bedeutet nicht notwendigerweise, dass der IS selbst für die Anschläge verantwortlich sein wird, es bedeutet nur, dass er eine sprudelnde Inspirationsquelle für die Terroristen in spe werden kann. Der Grund für diese Einschätzung liegt in der innovativen Waffenentwicklung und den neuartigen Gefechtstaktiken, welche die Islamisten in ihrem Krieg im Nahen Osten angewendet haben. Von besonderem Interesse sind in diesem Kontext die Verwendung von Alltagsgegenständen wie Spielzeugdrohnen, die mit Kameras und oder Sprengsätzen versehen wurden und zur Aufklärung und/oder zum Angriff dienten. In dieselbe Kategorie gehört die Verwendung von Playstation-Controllern zur Fernsteuerung selbst modifizierter Scharfschützen- und Maschinengewehren. Taktisch sticht die Verwendung von Suicide Guerilla Forces (i.F. SGF) hervor, also Guerilla-Truppen, die nicht nur als leichte Infanterie, sondern auch als Selbstmordattentäter in den Kampf ziehen (Ashour 2021). Dies war nur eine Auswahl von Innovationen des IS, die intuitiv wohl am leichtesten zu kopieren sind. Dass Terror auf Basis der Imitation von Taktiken, die der IS im Nahen Osten verwendete, auch in Europa möglich ist, zeigt der Terroranschlag in Paris 2015. Doch nicht nur mit innovativen Zweckentfremdungen, auch mit der Radikalisierung von bereits bekannten Konzepten, wie dem Einsatz von Fahrzeugen als Waffe, kann der IS Vorbildwirkung entfalten. Die Verwendung von Fahrzeugen als Waffe wurde laut einem Report des Counter Extremism Project über 50mal seit 2006 ausgeführt. Al-Qaida und der IS regten ihre Anhänger seit 2010 aktiv dazu an, diese Terrormethode zu verwenden (Counter Extremism Project 2021). Im Nahen Osten verwendeten die Truppen des IS sogenannte Suicide/Vehicel Borne Improvised Explosive Devices (i.F. SVBIED) zum Angriff gegen feindliche Stellungen. Je nach taktischem Ziel wurden auch Traktoren oder ähnliche schwere Fahrzeuge in eigens dafür eingerichteten Werkstätten gepanzert, um sich anschließend kugelsicher den Weg durch Hindernisse wie Schutt oder andere Fahrzeuge freiräumen zu können, ehe der Fahrer, wenn er am Ziel angekommen ist, das Fahrzeug mitsamt sich selbst in die Luft sprengt. Wie diese evolvierende Verwendung von Fahrzeugen mit Terror in Europa zusammenhängen könnte, lässt sich mithilfe des Imitationsmodells des Anthropologen Joseph Henrich (2015) darstellen. In der 0-Generation wird das Technische Merkmal „Fahrzeug“ zur Fortbewegung benutzt. Dabei kommt es regelmäßig zu Personenschäden, bei denen das tödliche Potential des Fahrzeugs deutlich wird. Dies erkennt der Terrorist der +1-Generation und verwendet das Auto für einen Terroranschlag. Die neue und erschreckende Methode erregt Aufsehen und so erfahren auch Truppen des IS von dieser Methode. Sie modifizieren Taktik und gegebenenfalls Fahrzeug auf ihre jeweiligen Bedürfnisse und experimentieren, teilweise auch erfolglos, mit der Methode. In den folgenden +2 und +3 Generationen elaborieren verschiedene Einheiten des dezentral organisierten IS die Methode, tauschen sich bei einem der vielen Schulungstreffen der Organisation aus – der IS legte großen Wert auf den Erfahrungsaustausch – und entwickelt ein differenziertes Portfolio an Verwendungsweisen, wie eben das SVBIED. In Nizza kommt nun der möglicherweise durch SVBIEDs inspirierte Terrorist der +4-Generation auf die Idee, ein SVBIED zu imitieren und ein ebenso massives Fahrzeug – im konkreten Fall einen LKW – zu verwenden, um eine ganze Menschenmasse zu attackieren. Anis Amri kopiert die in Nizza erfolgreiche Methode bei seinem Anschlag in Berlin.

Anthropologen wissen, dass Menschen und kulturelle Systeme vor allem durch Imitation lernen. Die skizzierte Imitationsgeschichte des Fahrzeugs als Waffe oder der Verweis auf den SGF-Anschlag in Paris sollen dabei deutlich machen, wie effektiv das Imitationsverhalten terroristischer Netzwerke aller Größen ist. Die Argumentation auf Basis von Henrichs anthropologischem Imitationsmodell weist zudem auf einen evolutionären Horizont hin, in dem erfolgreich selektierte technische Merkmale eine Stabilität über Generationen hinweg entwickeln und erhalten können. Der IS hat durch die Verwendung und ständige Adaption von Terrormethoden unter starkem Selektionsdruck gewissermaßen Pionierarbeit geleistet, auf die sich folgende Terroristengenerationen werden beziehen können.

Conclusio

Ein zwischenstaatlicher Krieg großen Maßstabs ist nicht ausgeschlossen, die hegenden Kräfte dürften jedoch verhindern, dass der zwischenstaatliche Krieg auf lange Sicht zum bestimmenden Faktor der europäischen Sicherheitspolitik wird. Dieser bestimmende Faktor wird nach meiner Prognose der Terrorismus, da nur kleine, schwer aufzuklärende und autonome Einheiten in der Lage sind, den technisch gut ausgerüsteten staatlichen Sicherheitsbehörden zu entkommen. Zudem können Terroristen künftig erfolgreich erprobte Terror- und Kampfmethoden imitieren, die vor allem im Kampf des IS im Nahen Osten entwickelt wurden, jedoch auch in angepasster Form bei Terroranschlägen in Europa bereits angewandt wurden. Diese Methoden sind niedrigschwellig übernehmbar, doch gleichwohl sehr effektiv und dürften daher für europäische Terroristen aller Couleur attraktiv wirken. Ein Mangel an gewaltbereiten Personen dürfte vor dem Hintergrund aktueller ökonomischer und kultureller Konflikte nicht herrschen. Wahrscheinlicher scheint es, dass die Zahl der Gewaltbereiten steigt und somit auch die Wahrscheinlichkeit erfolgreich durchgeführter Terrorattacken.

QUELLENVERZEICHNIS

  • Ashour, Omar. 2021. How ISIS fights: Military Tactics in Iraq, Lybia and Egypt. Edinburgh University Press.
  • Counter Terrorism Project. 2021. Vehicles as Weapons of Terror. Zuletzt aufgerufen am 13.02.2022. https://www.counterextremism.com/sites/default/files/2021-11/Vehicles%20as%20Weapons%20of%20Terror_112321.pdf.
  • van Creveld, Martin. 1991. Die Zukunft des Krieges. Gerling Akademie.
  • Henrich, Joseph. 2015. The Secret of our Success: How Culture is Driving Human Evolution, Domesticating Our Species, and Making Us Smarter. Princeton University Press.
  • Institute für Economics & Peace. Global Terrorism Index 2020: Measuring the Impact of Terrorism. Zuletzt aufgerufen am 09.02.2022. visionofhumanity.org/reports.
  • Luttwak, Edward. 2003. Strategie: Die Logik von Krieg und Frieden. Zu Klampen.
  • Münkler, Herfried. 2015. Die neuen Kriege. Rowohlt Taschenbuch.
  • Rosa, Hartmut. 2005. Beschleunigung: Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Suhrkamp.
  • Turchin, Peter. 2007. War and Peace and War. The Rise and Fall of Empires. Plume.
  • Turchin, Peter. 2010. Political Instability may be a contributor in the coming decade. In: Nature 463, S. 608.<7li>

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